“Als ich mich dazu entschied, trotz der Pandemie mein Erasmus-Semester in Tübingen zu machen, folgten Reaktionen wie: ‘Was will man während eines Lockdowns denn tun? Man kann keine neuen Kontakte knüpfen und die Vorlesungen finden sowieso online statt. Außerdem wird man die deutsche Kultur nicht kennenlernen, wenn das Bier nicht aus dem Kneipen-Zapfhahn fließt – und ein Buch von Goethe kann man ja auch in den Niederlanden kaufen.’ Ich habe es trotzdem gewagt.” Ein Erlebnisbericht unserer Erasmus-Redakteurin aus den Niederlanden.
Es mag paradox klingen, aber gerade in Krisenzeiten kommt eine andere Kultur besonders gut zur Geltung. Auch wenn die Corona-Maßnahmen vielerorts dieselben sind, kann der Umgang mit ihnen völlig unterschiedlich sein. Die Kultur eines Landes besteht nicht nur aus ihren Musiker*innen und Schriftsteller*innen, sondern auch aus gelernten und geteilten Verhaltensweisen, Überzeugungen und Werten einer Gruppe von Menschen. Kultur ist also etwas Subtiles, eine Lebensweise, von der man dachte, sie sei normal. Aber erst, wenn man mit anderen darüber spricht, merkt man, dass es viele andere Lebensweisen gibt.
Zugegeben, wer von “der Kultur” oder “der Mentalität” eines Landes spricht, bewegt sich auf dünnem Eis. Selbst innerhalb der Landesgrenzen kann es Unterschiede geben. In der Coronazeit mag das ein schöner Gedanke sein: Man muss nicht weit reisen, um neue Kulturen zu sehen. Gleichzeitig erschwert es jedoch die interkulturelle Berichterstattung.
Trotzdem wage ich mich auf dieses dünne Eis, denn (wie ich inzwischen aus meiner Entscheidung, doch nach Tübingen zu kommen, gelernt habe) Risiken einzugehen, zahlt sich von Zeit zu Zeit aus. Und da es noch einige Zeit dauern wird, bis wir wieder unbeschwert reisen und andere Kulturen kennenlernen können, bietet dieser Text hoffentlich die Möglichkeit, Deutschland neu zu entdecken – und zwar aus den Augen einer Nicht-Deutschen. Das kann das Reisefieber nicht verschwinden lassen, aber vielleicht ein wenig senken.
Risikoaversion
Das Erste, was mir auffiel, war die Risikoaversion: In Deutschland wird alles am liebsten im Voraus geplant, sodass das Unvorhersehbare einkalkuliert werden kann. Das spiegelt sich auch auf den Straßen wieder, wenn bei 15 Grad im November die Kinder in so dicke Skianzüge gekleidet sind, dass sie kaum laufen können. Außerdem schließen die Deutschen nicht umsonst die meisten Versicherungen innerhalb der gesamten Europäischen Union ab. Nach Ansicht der Niederländer*innen machen sich die Deutschen zu viele Sorgen, sind zu pessimistisch und zu vorsichtig. Es ist zum Beispiel schwierig, meiner Familie und meinen Freunden in den Niederlanden zu erklären, dass wir in Tübingen sogar draußen einen Mundschutz tragen müssen, ganz zu schweigen von den vorgeschriebenen medizinischen Masken.
Die Deutschen hingegen finden, dass die Niederländer*innen zu unvorsichtig seien. Vor zwei Wochen berichteten beispielsweise mehrere Zeitungen, dass die Niederlande ab dem achten Februar die Grundschulen “trotz der viel zu hohen 160-Inzidenz” wieder öffnen werden. Dadurch entsteht schnell der Eindruck, dass die Niederländer*innen viel mehr dazu neigen, kurzfristig zu denken: Solange es kein Problem gibt, brauchen sie sich keine Sorgen machen und es herrscht ein Gefühl von “Wir werden sehen” und “Alles wird gut”.
Das lässt sich am besten an der Coronapolitik veranschaulichen: Obwohl die Niederlande als letztes Land der Europäischen Union die Corona-Impfung einführte und zeitweise fast die meisten Infektionen der Welt hatte, meinen viele im Land, dass sie genug unternehmen würden, um dem Virus vorzubeugen. Ganz nach dem bereits erwähnten Motto:
Wir müssen uns keine Sorgen machen, denn alles wird gut werden.
Regeln sind Regeln: Ein Weihnachtsbaum für 16.000 Euro
Dieses optimistische Denken führt dazu, dass die Regeln in den Niederlanden etwas lockerer gehandhabt werden. Während in Deutschland die Mundschutzpflicht bereits mit der ersten Welle eingeführt wurde, wurde sie in den Niederlanden erst ab Dezember zur Pflicht. Außerdem herrschte in den Niederlanden lange Zeit ein selbsternannter “intelligenter Lockdown” ohne klare Regeln, bei dem die Menschen selbst beurteilen mussten, was sie für klug und richtig hielten.
Dieser nicht unkritische Unterschied im Denken ist mir erst im Laufe der Weihnachtsfeiertage bewusst geworden. Ich zweifelte, ob ich nach Hause gehen sollte, denn ich müsste erst zehn Tage in den Niederlanden in Quarantäne verbringen und dann zehn Tage in Deutschland, was ich für Zeitverschwendung hielt. Als ich meinen niederländischen und deutschen Freunden von meinen Zweifeln erzählte, bekam ich zwei unterschiedliche Reaktionen. Meine niederländischen Freunde sagten: “Aber wer wird die Quarantäne kontrollieren? Du musst dich doch nicht unter Quarantäne stellen, wenn es niemand sieht, oder?” Die erste Frage meiner deutschen Kommiliton*innen war: “Wie machst du das mit den Einkäufen?” Ob ich in Quarantäne gehen würde oder nicht, war für sie also überhaupt kein Thema. Sie setzten es einfach voraus, denn das war für sie die Regel.
Abgesehen davon, dass wir uns pauschal gesagt in den Niederlanden eher weniger an die Regeln halten, wenn wir wissen, dass es niemand kontrollieren kann, gehen wir sogar noch einen Schritt weiter, nämlich bis an die Grenzen des Gesetzes. Während ich über Weihnachten nach Hause fuhr, gab es einen harten Lockdown, genau wie in Deutschland, so dass alle nicht lebensnotwendigen Geschäfte geschlossen waren. Aber wie in Deutschland wurden Weihnachtsbäume als unverzichtbar angesehen. Corona hin oder her, Weihnachten sollte einfach gefeiert werden können.
Ein kreativer niederländischer Geschäftsmann hatte eine raffinierte Idee und bot Weihnachtsbäume für 16.000 Euro an, zusammen mit einem kostenlosen Suzuki Swift. Denn, so argumentierte er, der Verkauf von Autos sei nicht erlaubt, aber der Verkauf von Weihnachtsbäumen schon, also mache er nichts falsch. In Deutschland ist es anders: Auch wenn man nicht kontrolliert wird, hält man sich an die Regeln. Selbst wenn die Regeln auslegungsfähig sind, wird das nicht oft gemacht, weil man weiß, dass das nicht die Absicht ist.
Zum Beispiel wurden Studierende bereits im Oktober in der Erasmus-App darauf hingewiesen, dass die Bars zwar noch geöffnet seien, man sich aber trotzdem vernünftig an die Regeln halten sollte. “Wenn du es nicht für dich selbst tust, tu es für jemand anderen.” In den Niederlanden sieht man das anders. Ich habe den Eindruck, dort lautet das Motto: “Wenn du gesund bleiben willst, kümmere dich um dich selbst.”
Unterschiede in der Diskussionskultur
Ein weiterer Unterschied ist in der Diskussionskultur zu finden. In den Niederlanden diskutieren wir eher entspannt. Jede*r darf sprechen, egal ob die Aussage sachkundig ist oder nicht. Es ist wichtig, dass man einander zuhört. Es ist besser, einen Mittelweg zu finden, der alle zufriedenstellt, als zu beweisen, dass man Recht hat. Meist wird in leichter Sprache argumentiert, denn wenn man etwas nicht in eigenen Worten sagen kann, hat man das Thema nicht wirklich verstanden. Argumente enden oft mit und so weiter, damit die andere Person Raum hat, ihre Meinung zu äußern. Kritische Fragen sind lästig, weil sie die Harmonie stören. Natürlich gibt es auch eine Kehrseite: Niederländer*innen können lange und rau miteinander streiten und sich trotzdem nicht festlegen.
In Deutschland funktioniert das irgendwie ein wenig anders. Ich habe das Gefühl, dass Deutsche sich oft nur dann auf eine Debatte einlassen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie wissen, worum es geht. Sie suchen nicht nach Zugeständnissen, sondern versuchen, ihre Meinung durchzusetzen. Denn wer zu schnell einlenkt, gibt zu, nicht genug über das jeweilige Thema zu wissen. Oftmals folgen auf ein Argument mehrere Beispiele zur Veranschaulichung des Arguments, wodurch das Argument so herausgehämmert wird, dass den anderen Recht gegeben werden muss. Kritische Fragen werden als wesentlicher Bestandteil einer Diskussion angesehen: Denn wer keine kritischen Fragen stellen kann, hat das Thema wahrscheinlich nicht verstanden. Vorzugsweise geschieht dies in akademischer Sprache, denn je schwieriger die Sätze konstruiert sind, desto dominanter wirkt das Argument. So kommt es mir vor.
Anne Will vs. Op1
Diese Unterschiede werden in den Talkshows, in denen die Corona-Maßnahmen diskutiert werden, deutlich sichtbar. Wenn die niederländische Regierung neue Maßnahmen ankündigt, sind die Talkshows voll mit Menschen aus allen Ecken der Gesellschaft, wo jeder Gast zum Ausdruck bringt, was die Maßnahmen für sie/ihn bedeuten. Für einige sind die Maßnahmen schlimmer als für andere. Die beliebtesten Talkshows sind daher oft gefüllt mit Gesprächen zwischen YouTuber*innen und Virolog*innen, Lehrer*innen, Krankenschwestern und Politiker*innen, wobei die Gespräche vor allem unterhaltsam sein sollen.
Die kritischste Talkshowszene fand jedoch statt, als sich Influencer*innen gegen die Corona-Maßnahmen aussprachen und Aussagen machten wie: “Ich mache nicht mehr mit” und “Gemeinsam halten wir die Regierung unter Kontrolle”.
So etwas wird man in Deutschland nicht so schnell sehen. Denn in deutschen Talkshows wird weniger darüber diskutiert, was die Maßnahmen für die Einzelnen bedeuten, sondern vielmehr darüber, wie die neuen Maßnahmen aussehen könnten, basierend auf wissenschaftlichen Fakten aus verschiedenen Fachdisziplinen. Diskussionen müssen also nicht gemütlich, sondern kritisch sein. Wer die Fakten nicht kennt, äußert sich nicht gerne. Außerdem hält sich jede*r an sein eigenes Fachgebiet, damit es nicht zu so verwirrenden Situationen wie in den Niederlanden kommt, wo der Gesundheitsminister morgens bekannt gibt, dass die Schulen geschlossen bleiben, um dann am Nachmittag vom Finanzminister gesagt zu bekommen, dass sie doch geöffnet werden sollen.
Für die Niederlande wünsche ich mir daher hin und wieder mehr Klarheit: Eine Angela Merkel, die wütend auf den Tisch klopft, um zu zeigen, dass die Regeln nicht ohne Grund da sind. Keine schöne Botschaft, aber zumindest ist sie klar. Oder wie Goethe einst sagte:
“Es gibt mehr zu tun als zu genießen.”
Bei den Deutschen hingegen wünsche ich mir eine lockerere Haltung. Wie wäre es, wenn mal niemand aus der Politik, sondern ein*e unbekannte*r, Durchschnittsbürger*in zu Anne Will eingeladen werden und sagen würde: “All diese Zahlen sind interessant, aber lasst uns nicht vergessen, dass dahinter auch immer Menschen stehen.”
Hoffnungsvoll blicke ich auf Tübingen, wo diese beiden Mentalitäten zusammen gebracht werden. Der oft zitierte “Tübinger Weg“ gegen Corona, bei dem unter anderem ältere Menschen für das Geld des Busses ein Taxi nehmen können, ist eine kreative Lösung, mit der man trotzdem weiterkommt. Ich halte das für einen guten Anfang. Dafür können die Kneipengänge ruhig noch ein wenig warten.
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