Am Sonntag, den 22. November 2020 hätte in der Stadthalle Reutlingen ein Konzert des Nachwuchsorchesters (NWO) Reutlingen stattfinden sollen. Doch Ende Oktober bekam das Orchester die niederschmetternde Nachricht: Alle Proben sowie das Konzert werden coronabedingt abgesagt. Ein Interview mit Maria Eiche, Dirigentin des Orchesters, über ihre Sorgen und Hoffnungen sowie über Orchester-Teamgeist und Musik aus Protest.
Kupferblau: Maria, bevor wir mit dem Corona-Thema anfangen: Was zeichnet denn das NWO aus?
Zum einen: Bei uns darf jeder mitspielen! Man braucht eine Empfehlung vom Lehrer, aber es wird bei uns nicht nach dem Motto ausgewählt „wer der Beste ist, der darf mitspielen“. Es hat jeder die Chance, sich bei uns zu entwickeln. Es gibt keine Probevorspiele, sobald es einen Platz gibt, darf man mitmachen. Außerdem ist bei uns alles ehrenamtlich organisiert. Sowohl ich, die Dirigentin, als auch alle Leute in der Orga machen das ehrenamtlich. Jeder Mensch, der im NWO etwas organisatorisch macht, ist am Ende auch auf der Bühne beteiligt. Das führt dazu, dass es einen ganz tollen Zusammenhalt in der Gruppe gibt, weil man immer weiß: man hat das jetzt gemeinsam erreicht. Wir haben nicht jemanden von außen, der uns sagt, was wir machen müssen. Unser Orchester Teamgeist ist dadurch total stark.
Zum anderen: Bei uns lernen die Kleinen von den Großen. Bei uns ist es auch üblich, dass Stimmproben manchmal von externen Dozenten geleitet werden. Es gibt auch immer Stimmproben, die von den Stimmführern geleitet werden. Das sind dann Jugendliche, meistens etwas älter, die ihre Fähigkeiten an die Jüngeren weitergeben. Fähigkeiten, die sie selber von älteren gelernt haben, als sie jünger waren und mitgespielt haben. So entwickelt sich unser Orchesterspiel.
Merkst du das auch außerhalb von den Proben? Gibt’s da dann Freund-schaften zwischen Älteren und Jüngeren, die sich weiterziehen?
Ja. Ich merke auch, dass es Cliquen gibt – über die Schule hinweg. Wir haben ein ganz großes Einzugsgebiet mit Pi mal Daumen Schülern von 20 verschiedene Schulen. Manche fahren eine dreiviertel Stunde zur Probe. Am Anfang kennen sich nur die Leute aus ihren Schulen, aber irgendwann merkt man dann, dass sie auch mit anderen unterwegs sind…
Ihr seid also keine Gruppe von Leuten, die sich einmal die Woche zum Musikmachen trifft, und das wars dann auch wieder. Da scheint viel Gemeinschaftsgefühl und Freundschaft dahinter zu stecken.
Ja, ganz viel.
Was dem NWO fehlt
Dann komm ich von diesem heiteren Thema zu etwas ernstem: Das NWO kann ja gerade gar nicht proben. Du hast schon erzählt, was du am NWO besonders schätzt. Jetzt ist natürlich die Frage: Was fehlt dir denn jetzt am meisten? Dir als Dirigentin?
Mir fehlt vor allem, dass ich die Leute nicht mehr sehe. Dass ich nicht Freitag abends in die Probe kann und mit den Leuten interagiere, mit denen ich schon seit fünf Jahren und länger in den Proben bin. Es fehlt mir, dass ich nicht sehe, wie sie irgendwas Neues lernen, wie sie sich an einem Stück entwickeln, wie man ein Stück gemeinsam auf ein anderes Niveau bringen kann. Wie man musikalisch Fortschritte macht. Aber mir fehlt auch einfach dieser Gedanke: Egal, wie die Woche war, sie hört immer mit einer lustigen Probe auf.
Was, würdest du sagen, fehlt den Kindern am meisten?
Teilweise sehen sie sich ja nach wie vor in den Schulen, aber das ist trotzdem nochmal etwas anderes. Ich habe auch Nachrichten geschickt bekommen, dass man jetzt nur noch in der Schule vor sich hinarbeite, und dass das schade sei. Der Ausgleich fehlt. Man übt natürlich sein Instrument, geht auch zum Instrumentalunterricht, das geht ja Gott sei Dank auch noch. Aber das spielen in der Gruppe, das fehlt denen auch.
Ich vergleiche das immer gerne mit dem Sport: Ich treffe mich ja nicht alleine mit meinem Trainer und übe Zweipässe. Ich gehe ins Mannschaftstraining und spiele gemeinsam mit der Mannschaft. Und danach geht man gemeinsam und feiert noch den Sieg oder auch die Niederlage, oder jedenfalls die Gemeinschaft. Ich könnte mir vorstellen, dass es den Kindern auch den Sinn am Hobby nimmt. Ich fürchte ein bisschen, dass da der Anreiz oder der Motivationsschub fehlt, weil man das gemeinsame Erlebnis nicht hat.
Das haben wir uns von der Kupferblau auch gefragt: Machst du dir Sorgen, dass deswegen Leute einfach abspringen könnten?
Natürlich mache ich mir die Sorge allgemein, dass viele Hobbys, nicht nur die Musik, auf der Strecke bleiben. Beim NWO ehrlich gesagt nicht. Ich glaube, das liegt gerade an diesem Orchester-Teamgeist, von dem ich vorher schon gesprochen habe. Die meisten spielen hier schon so lange mit oder sind dem Orchester so emotional verbunden, dass ganz klar ist: sobald man wieder darf, kommt man wieder in die Proben.
Ganz am Anfang haben wir bei einem Flashmob mitgemacht, da hat jeder von seinem Fenster aus gespielt. Ich hatte unglaublich viel Unterstützung von den Teilnehmern, als wir im Frühjahr ein Konzert spielen durften. Die wollten das weiter machen. In den ersten Wochen des Lockdowns im März und im April haben wir Übungspläne rumgeschickt, da haben auch viele mitgemacht.
Weniger ist mehr
Darauf werden wir später noch zurückkommen, auf Konzert und Freizeit. Du hast jetzt gesagt, du hast mit 50 Teilnehmenden das Konzert gespielt, bist mit 45 Leuten auf die Orchester-Freizeit gegangen. Normalerweise seid ihr mehr. War das blöd, dass ihr weniger wart? Wie kam es dazu?
Im Konzert im Sommer waren es weniger, weil es einfach sehr, sehr kurzfristig war. Wir hatten das Konzert eigentlich intern abgesagt. Wir sind nicht davon ausgegangen, dass wir spielen dürfen. Wir hatten der Stadthalle aber noch nicht abgesagt, und dann hat vier Wochen vor dem Termin die Stadt angerufen und gesagt, dass wir spielen dürfen. Wir haben uns natürlich riesig gefreut, keine Frage. Aber manchen war das dann zu stressig, weil sie anderweitig verplant waren oder es ihnen in der Schule auch zu viel war.
Bei der Freizeit wars ähnlich. Da gab’s von einigen Eltern Sorge. Wir hatten aber ein eigentlich bombensicheres Hygienekonzert. Nichtsdestotrotz sind vor allem Kinder aus Familien, in denen Risikopatienten leben, nicht mitgekommen. Auch einige von den Älteren, gerade von denen, die Abitur machen – die haben die Herbstferien zum Lernen gebraucht.
Die Proben hatten, wie du gerade gesagt hast, einiges an Auflagen. Es war anders, als ihr das gewohnt wart. Wie hat sich das angefühlt?
Es hat trotzdem total Spaß gemacht! Ich finde, man muss einfach aus diesen Auflagen und Maßnahmen das Beste machen. Wir haben im Sommer, als wir noch nicht in unserem normalen Probenraum proben durften, in einer leerstehenden Lagerhalle geprobt, wo nebenan mit irgendwelchen Schlaghämmern gearbeitet wurde. Es gab da keine Stühle, jeder musste mit seinem eigenem Campingstuhl antanzen. Das hatte eine total futuristische Atmosphäre in dieser Lagerhalle, da hingen noch Kräne von der Decke und sowas.
Unsere erste Probe fand in einem Garten statt. Wir hatten immer Angst, dass es anfängt, zu gewittern. In den letzten Wochen durften wir wieder in unserem Probenraum in einer Schule proben, mit Abstand natürlich. Das hat fürs Instrumentalspiel einige Vorteile. Dadurch, dass man sich nicht mehr hinter dem Nachbarn verstecken kann, spielen viele viel freier. Sie müssen solistischer spielen, und das hat dem Orchesterklang gutgetan.
Das klingt wirklich gut. Siehst du sonst noch Chancen in der Situation? Kannst du für das Orchester etwas Positives herausziehen?
Also wir hatten ja jetzt im Herbst diese Freizeit, und ich habe das Gefühl, dass das Orchester noch nie so eine Gruppe war, wie auf dieser Freizeit. Noch mehr als sonst, meine ich, und das unter den Umständen. Wir hatten das Orchester in Gruppen von 8 bis 10 Leuten eingeteilt, die miteinander ihre Freizeit verbracht haben, die haben zusammen gegessen und mussten untereinander keine Maske tragen.
Natürlich willst du auf solchen Fahrten auch außerhalb der Proben was unternehmen. Wir haben einen Filmabend gemacht, in einem riesen-großen Raum. Da saßen sie in ihren Gruppen auf Decken, wir haben alle 20 Minuten durchgelüftet.
Gut, dass ihr die Decken hattet!
Genau. Es war aber immer ganz klar, dass wir als Orchester diese Maßnahmen einhalten. Wenn jemand aus einer fremden Gruppe dazu kam, dann haben wir natürlich sofort unsere Masken aufgesetzt. Das war eine Höchstleistung an Disziplin und Eigenverantwortung, die man einem Haufen Teenager vielleicht gar nicht zutraut. Da waren einige Eltern skeptisch, aber die haben bewiesen, dass sie das können. Sie haben gezeigt: Denen ist die Musik wichtig, denen ist die Gruppe wichtig, also haben sie sich an diese Einschränkungen gehalten.
Dann wart ihr ja das erste Orchester, das nach dem ersten Lockdown ein Konzert in der Stadthalle in Reutlingen spielen durfte. Erzähl mal: wie waren die Proben, wie war das Konzert?
Also die Proben fanden, wie gesagt, in dieser riesengroßen Lagerhalle statt, mit diesen Störgeräuschen. Wir hatten die großen Seitentore offen, wegen dem Lüften, dadurch kamen lauter Windböen rein… Wir saßen auf Campingstühlen. Viel Zeit zum Proben hatten wir auch nicht.
Das Konzert war im Vorfeld sehr schwierig zu organisieren. Wir mussten diesmal einen Kartenvorverkauf machen. Normalerweise sind unsere Konzerte kostenfrei, aber das konnten wir uns dieses Mal nicht leisten. Außerdem war nur eine maximale Personenzahl von 250 Leuten im Publikum erlaubt. Das fanden wir ein bisschen schade, also haben wir das Konzert einfach zweimal gespielt, sodass wenigstens 500 Leute kommen konnten.
Wir mussten aber alle Tickets einzeln verkaufen, und vor allem mussten wir jedem einen festen Sitzplatz zuweisen. Da unser Orchester ehrenamtlich arbeitet und wir uns keine große Ticket-Software leisten konnten, mussten wir das mit Exceltabellen machen und die Karten den Leuten irgendwie zuschicken. Es war nicht die Musik, und es waren auch auch nicht die Proben, die das Konzert anstrengend gemacht haben, sondern die Logistik. Was toll war, war, wie wir auch unabhängig von der Musik daran gewachsen sind. Gerade das mit den Exceltabellen, da haben sich ganz viele von denen reingearbeitet. Ein Junge hat ein Video gedreht, als Teaser für das Konzert. Da sind dann noch ganz andere Stärken zum Einsatz gekommen.
Und dann am Konzerttag selber war es sehr aufregend: Man kam da hin und hat gemerkt, die Mitarbeiter in der Stadthalle waren auch froh, dass endlich wieder was stattfindet. Die haben zum ersten Mal diesen neuen Vorhang vor den Bläsern ausprobiert, der war wie ein riesengroßer Duschvorhang. Das war für uns natürlich total ungewohnt, wir waren ja die Lagerhalle gewöhnt, mit ihrer Kathedralen-Akustik. Plötzlich waren wir nicht mehr kilometerweit voneinander entfernt, dafür war aber ein Vorhang zwischen uns, durch den man nur verschwommen gesehen hat. Das war schwierig. Ich habe auch von meinen Bläsern gehört, dass bei denen nicht so ganz Konzertstimmung aufkam, weil man eben wie in der Dusche saß. Aber es waren alle froh, dass man wieder spielen darf. Später haben Leute erzählt, dass manche im Publikum Tränen in den Augen hatten. Es war schon sehr…schön.
Auch im Nachhinein? Was denkst du jetzt darüber?
Ich bin immer noch sehr stolz auf meine Kids, dass die das hingekriegt haben. Und auch insgesamt auf dieses Orchester, dass wir das machen durften. Ich finde, das ist auch ein Zeichen: Natürlich ist es wichtig, dass Berufsorchester wieder spielen dürfen, dass Berufsmusiker ihr Geld verdienen dürfen, aber ich finde es auch wichtig, dass die Laienmusik nicht stirbt. Die Laienmusik ist das, was ganz vielen Leuten ein Hobby gibt. Dass es einen Freundeskreis gibt, die Musik genau so schätzen, wie man selbst.
Es ist ja immer blöd zu fragen, wie geht’s denn jetzt weiter. Aber wie würdest du dir denn wünschen, dass es weiter geht?
Wir haben bewiesen, dass wir ein Hygienekonzept in unseren Proben haben, dass wir proben können und sinnvoll Musik machen können. Wir haben bewiesen, dass wir mit Hygienekonzept ein Konzert geben können, dass wir mit Hygienekonzept eine Probenfreizeit durchführen können…
Ich würde mir einfach wünschen, dass wir uns wieder sehen dürfen, dass wir wieder Musik machen dürfen. Auch das fand ich toll: Ich musste an dieser Orchesterfreizeit am vorletzten Tag sagen, dass unser Konzert gerade abgesagt wurde. Ich hatte Angst, dass dann die Stimmung und die Motivation kippt, und man nicht mehr so schön zusammen Musik machen kann. Das Gegenteil war der Fall: Wir haben aus Spaß gespielt, aber auch aus Protest.
Und das würde ich mir glaube ich als allererstes wünschen: dass wir einfach wieder gemeinsam Musik machen dürfen. Wir haben bewiesen, dass wir es können. Man kann sogar mit Maske Geige spielen. In die Oboe reinpusten ist ein bisschen schwierig, aber man kriegt das alles trotzdem hin. Deswegen find ich es sehr schade, dass Leute sich da wissentlich und willentlich gegen Maßnahmen sträuben und die Ansteckungszahlen in die Höhe schießen, weil sie mit einer persönlichen Einschränkung in Form eines Stückchen Stoffs im Gesicht nicht einverstanden sind. Und cas, obwohl es ganz viele Menschen gibt, die mit diesem Stückchen Stoff problemlos ihr Freizeitleben weiter gestalten könnten.
Fotos: Nachwuchsorchester Reutlingen