Warum braucht es plurale Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften? Gibt es sinnvolle Alternativen zum derzeitigen Wirtschaftssystem? Wie kann man die Macht riesiger transnationaler Konzerne brechen? Das sind Fragen, mit denen sich der ehemalige griechische Finanzminister und Wirtschaftsprofessor Yanis Varoufakis auseinandergesetzt hat. Anfang der Woche kam er im Rahmen der Vorlesungsreihe „Introduction to Pluralism in Economics“ in den Kupferbau.
„The data can not settle the ideological question“
Yanis Varoufakis eröffnete den Abend mit einem Lacher: Er sei froh immer noch Vorlesungen halten zu dürfen, sei doch der Übergang vom Akademischen hin zum Politischen grausam. Manchmal stehle er sich gar davon, um heimlich vor seinen Studierenden an der Universität Athen eine Vorlesung zu halten. Angesichts seiner politischen Karriere ist Sehnsucht nach dem ruhigeren, akademischen Leben nur verständlich, war er es doch der im Sommer 2015 auf dem Höhepunkt der griechischen Finanzkrise die Geschicke des Landes in Sachen Finanzen zu führen hatte. Besonders bekannt geworden sind seine Auseinandersetzungen mit dem damaligen deutschen Finanzminister Schäuble. Wenig später trat der Wirtschaftsprofessor von seinem Posten ab, da er die von der EU angesetzte Sparpolitik für Griechenland nicht mittragen konnte.
Heute ist Varoufakis Abgeordneter im griechischen Parlament und organisiert sich auf EU-Ebene im Bündnis DiEM 25. Auch hier ist der 59-Jährige bekannt für seine Kritik an Turbo-Kapitalismus und neoklassischen Wirtschaftsansätzen. Nach der Eröffnungsrede, die Anna-Katharina von Rethinking Economics Tübingen hielt, stellte sich Varoufakis die Frage, warum man plurale Ansätze in den Wirtschaftswissenschaften brauche. In der Physik benötige man diese nicht, so der Grieche. Über Naturgesetze müsse man nicht diskutieren. Das sei in den Wirtschaftswissenschaften anders: Prognosen und Vorhersagen von Wissenschaftler*innen könnten aktiv in die Wirtschaft eingreifen und hätten reale Auswirkungen. So könne eine Prognose zur eigenen Bestätigung führen. Darüber hinaus würden Modelle an Daten angepasst und weiterhin mit gescheiterten Theorien gearbeitet. Varoufakis führte das auf ein ideologisches Festhalten an Annahmen der neoklassischen Wirtschaftstheorien zurück: Am Ende teste man nicht Theorien, sondern die “Objekte”, sagte Varoufakis mit Blick auf den schon häufiger widerlegten Rational-Choice-Ansatz. Wirtschaft sei viel näher an der Philosophie als an der Naturwissenschaft. Ästhetische, schöne Modelle von Marktmechanismen versagten in der Realität, „we have no idea why markets fail, we just know that they tend to fail“, so der ehemalige Finanzminister.
„Today we´re all free in the land of unfree“
Im Laufe seines Vortrags fand das griechische Parlamentsmitglied auch den Bezug zu den Modulplänen. Die Studierenden der Wirtschaftswissenschaften müssten Modelle lernen, die in der Realität nicht zutreffen und die wichtige Kenngrößen, wie Zeit, Geld, Beschäftigung, Risiko oder Tod nicht abbilden würden. In den Büchern sei von Angebot und Nachfrage, Märkten und Gleichgewichten die Rede, kaum aber vom Kapitalismus. Märkte und Marktmechanismen seien aber nicht kapitalismuseigen, so Varoufakis. Schon in der Antike sei eine Preisbildung durch Angebot und Nachfrage geschehen. Die Ursprünge und „wahre Natur“ des Kapitalismus’ brachte der DiEM-Abgeordnete dagegen mit der East India Company in Zusammenhang, die im 17. Jahrhundert als erstes Unternehmen frei verkäufliche Anleihen in den Umlauf brachte, und so zu derartigem Reichtum kam, dass die firmeneigenen Streitkräfte zahlenmäßig sogar die Armeen Frankreichs oder Großbritanniens übertrafen.
Varoufakis bemühte weiterhin historische Vergleiche, als er Thomas Edinsons Elektro-Konzern, der Glühbirnen und den dafür nötigen Strom gleichermaßen lieferte, als Monopol bezeichnet. Die gewaltigen Infrastrukturausgaben, die für die Verlegung der Stromkabel und Errichtung von E-Werken nötig waren, konnten damals nur durch einen Zusammenschluss von Großbanken finanziert werden, die das Geld praktisch „aus dem Nichts“ schöpften. An diesem Punkt kam Varoufakis auch auf das Heute zu sprechen. Monopole gäbe es nämlich heute immer noch, in der digitalisierten Welt sogar zu Hauf: Die „programmierte Welt“ von Facebook beispielsweise, sei eine gigantische Wirtschaftszone, in der man „gleichzeitig Erzeuger und Nutzer“ von Dienstleistungen sei. „What is the capital of facebook?“, fragte Varoufakis in den vollbesetzten Hörsaal. „Your Posts!“, gab er sich selbst die Antwort. „That´s not capitalism, that´s Soviet Union“, so der Wirtschaftsprofessor.
Der I-have-a-dream Moment
Yanis Varoufakis warb nicht nur für eine Änderung in der Wirtschaftswissenschaft, sondern auch für eine Änderung in der Politik. Die derzeitige Gangart des Kapitalismus’ gefährde das Klima und uns selbst. Ein sozialer Kapitalismus sei nicht möglich und nur eine Ideologie, er habe mit der Realität so viel gemeinsam, wie der emanzipatorische Anspruch des Marxismus’ mit der Sowjetunion, so Varoufakis. Das machte er zum Beispiel an dem Finanzunternehmen Black Rock fest, das durch Beteiligungen in teils konkurrierenden Unternehmen Marktmechanismen ausheble. Dabei bezeichnete sich der Grieche selbst als Fan von Märkten: „Märkte für Kartoffeln“.
Nach dieser Problemdiagnose blieb Varoufakis den Zuschauer*innen in insgesamt drei Hörsälen und im Internet einen Lösungsansatz nicht schuldig. „Can I have a I-have-a-dream moment?“, fragte er. Daraufhin erklärte er, wie man seiner Meinung nach zu Märkten ohne Kapitalismus komme. Eine Demokratisierung der Wirtschaft sei ein erster Schritt, alle Mitarbeiter*innen sollen Anteile einer Firma bekommen und Bonuszahlungen im Unternehmen nach Leistungsprinzip per Wahl abstimmen. Ein Problem sei derzeit, dass die meisten Leute, die in einer Firma arbeiteten, diese nicht besäßen, die meisten Leute, die die Firma besäßen aber nicht in ihr arbeiteten. Eine Art Geburtsgeld solle staatlich ausgezahlt werden und könne zu besserer Bildung führen. Auch verschiedene Wirtschaftszonen schlug Varoufakis vor: In festgelegten Gebieten sollen kapitalistische Produktionsweisen und Mechanismen walten können, andere dagegen sozialen Zwecken, wie dem Wohnungsbau dienen.
Etwas aktionistischer war sein Vorschlag auf ein Anliegen aus dem Publikum: Die Macht transnationaler Konzerne könne durch kollektive Streiks gebrochen werden. Wenn sich weltweit Menschen absprechen würden, eine Konzern-Website für einen Tag nicht zu besuchen, könnte das schon enorme Auswirkungen haben. Dieser „digitale Protest“ könne sich verstärken, indem sich beispielsweise Mitarbeiter*innen der Konzerne aufgrund von schlechten Arbeitsbedingungen am Streik beteiligen und die Streiks wiederholt stattfinden. „We have a lot of power“, so Varoufakis. „My job is to implant dangerous ideas into the mind of the young“, bemerkte er schnippisch.
Die Vorlesungsreihe „Introduction to Pluralism in Economics“ fand in diesem Semester, organisiert von der Hochschulgruppe Rethinking Economics, wöchentlich statt. Die Veranstaltungen sollten zu mehr Theorienvielfalt in der Ökonomie beitragen. “Neoclassical economics is only one way to do economics”, stellte Rethinking-Mitglied Anna-Katharina am Anfang der Vorlesung klar. Man wolle nicht mit Professor*innen streiten, sondern neue, plurale Ansätze aufzeigen. “We are the economists for our future”, schloss die Studierende. Auch im nächsten Semester finden wieder Lehrveranstaltungen statt, unter anderem eine Vorlesungsreihe zu Nachhaltigkeit im Kontext der Wirtschaftswissenschaft.
Dem konnte Varoufakis nur zustimmen. Der ehemalige griechische Finanzminister beendete den Abend mit einem Plädoyer für Pluralismus in den Wirtschaftswissenschaften: „You should approach every model with enthusiasm, because they are all beautiful“, so der Ökonom.
Fotos: Thomas Dinges