Auf die Frage, was ein sogenannter „Catcall“ denn sei, kann nicht jede*r eine Antwort geben. Sexismus ist oft unsichtbar, wird von betroffenen Personen verschwiegen, nicht selten auch durch ungleiche Machtverhältnisse beeinflusst. Der Tübinger Zweig der Chalk Back Organisation „catcallsobtübingen“ macht Sexismus anonym sichtbar. Die Kupferblau hat sie einen Tag lang begleitet.
Die internationale Chalk Back Organisation setzt es sich zum Ziel, (sexuelle) Belästigung, die auf der Straße alltäglich passiert, sichtbar zu machen und sie so zu bekämpfen. Ihre aktivistische Methode besteht darin, zu dem Ort zu gehen, an dem die Belästigung stattgefunden hat, und diese dort mit Kreide auf den Boden zu schreiben. Es wird also „zurückgekreidet“.
Einer der deutschen Zweige dieser Organisation ist @catcallsoftuebingen. Auf ihrem Instagram-Kanal bekommen sie täglich Nachrichten, in denen Personen ihre Erfahrungen mit Straßenbelästigung teilen. Catcallsoftübingen funktioniert auf einer Vertrauensbasis, bei dem die Belästigung schlussendlich anonymisiert wird. Vor allem FLINTA* Personen machen nicht selten Erfahrungen mit Belästigungen, bei manchen ist es schlichter Alltag.
Ein Tag zum Ankreiden
Die Aktivist*innen Katja und Hella treffen mich mittags vor der Neuen Aula in Tübingen. Sie haben einen kleinen Koffer mit Kreide dabei, den sie nach ein paar begrüßenden Worten auch gleich benutzen. Im Team kreiden die beiden eine Nachricht auf den Boden:
„#stopptbelästigung. Er fasste mir an den Hintern und bestand trotz Verneinen auf ein Date.“
Sie betonen, dass auf ihrem Instagram Kanal auch stets noch die ganze Nachricht anonymisiert veröffentlich wird, und, dass die Ankreidung auch ein Anreiz sein kann, sich die komplette Nachricht online anzuschauen.
Rein technisch gesehen ist die obige Ankreidung auch kein Catcall mehr, sondern schon physische sexuelle Belästigung. Die Aktivist*innen und ihre Organisation kreiden auch andere Formen der Belästigung an, geben ihnen Raum zu wirken.
Viele Leute gehen ihrem normalen Tagesgeschehen nach, beachten das Kreiden nicht. Aber mindestens genauso viele Köpfe haben sich während dem Kreiden nach uns gedreht, beobachtet, noch einige Schritte lang verfolgt und in manchen Fällen sogar gestoppt, um die fertige Kreidung zu lesen. Beim Beisein der Aktivist*innen wird die fertige Kreideschrift auch manchmal umlaufen, vorsichtig umtänzelt.
Für den Instagram Kanal wird ein Foto gemacht und es geht es weiter zum nächsten Ort, an dem Straßenbelästigung angekreidet wird.
Beim Kreiden im alten Botanischen Garten wurden wir auch promot von zwei männlich gelesenen Personen angesprochen, sie halten kurz und lesen den Schriftzug „bei deinem Anblick werde ich geil“ — sie verlassen uns auch genauso schnell wieder mit dem Kommentar „das passiert mir nicht.“
Man kann beobachten, wie jüngere Personen stoppen, wo der Anblick meist vertraut wirkt, wobei bei älteren Personen oft Irritation, Frage, aber auch Interesse ins Gesicht geschrieben steht.
Eine ältere weiblich gelesene Person hält hier ebenfalls an und lobt für die Sichtbarmachung und erzählt kurz über ihre Erfahrung, u. a. wie sie sich in den vergangenen Sommermonaten unwohl gefühlt hat. Sie geht nicht mehr ins Schwimmbad, weil es dort sehr unangenehm sei. Hella fügt hinzu, dass Catcalls nicht nur ein Unwohlsein, sondern auch ein aktives Vermeidungsverhalten hervorrufen können. Orte bleiben im Kopf, schrecken ab. Die Kleidungswahl wird beeinflusst und hinterfragt.
Wir machen einen weiteren Stopp an der Spitze der Mühlstraße.
Ein älterer Herr stoppt mit seinem Enkel vor uns, geht aber nach einiger Zeit rasch weiter, mit einem freundlichen „Guten Tag“.
Eine Kindergärtnerin bleibt vor uns stehen und erzählt kurz, dass sie sich nicht wohlfühlt, abends allein unterwegs zu sein, und, dass sie bei der Arbeit als Kindergärtnerin auch oft auf das Thema Grenzen und Grenzüberschreitung aufkommt.
Wir machen einen letzten Stopp an der Neckarbrücke und beenden das Tagesgeschäft „Kreiden“. Mir wird erzählt, dass es ein Tag mit relativ wenig Interaktion war, und, dass an Sonntagen besonders viele Leute stoppen, um zu schauen, zu erzählen, zu kommentieren. Abschließend setzen wir uns auf die Neckarbrücke für ein schnelles Interview.
Sichtbarmachen von Sexismus im Gespräch
Kupferblau: Warum seid ihr Mitglieder von @catcallsoftübingen?
Katja: Ich habe den Tübinger Zweig im Oktober 22 mit zwei Freundinnen gegründet und ich hatte das vorher bei catcallsofmainz gesehen. Die hatten damals eine große Medienpräsenz, worüber ich auf sie aufmerksam geworden bin. Einer Freundin sind Catcalls auch besonders häufig passiert und dann dachten wir uns zusammen, dass wir das starten wollten, weil es noch keinen Zweig für Tübingen gab.
Hella: Ich bin dabei, weil ich die Form des Aktivismus super spannend finde und gerne auch wissen wollte, wie es ist in der Öffentlichkeit zu kreiden. Nicht unbedingt Veranstaltungen zu organisieren, sondern einfach jeden Sonntag loszuziehen und hab dann gemerkt, dass das ziemlich befreiend ist. Aber sicher auch aus persönlicher Betroffenheit und weil ich oft über Tübingen höre, dass es doch so ein kleiner nicht-anonymer Ort sei und, dass es hier auch sehr häufig passiert. Damit ist es egal wo, Catcalling passiert überall.
„Das ist so ein bisschen rage auf die Straße bringen.“
Hella
Kupferblau: Ist Sexismus heutzutage sichtbar oder unsichtbar?
Katja: Es kommt total darauf an wie man aufwächst, was für eine Bildung man genießt, ob man im näheren Umfeld davon betroffen ist, damit man überhaupt auf Sexismus aufmerksam wird. Durch soziale Medien kann man dadurch auch aufmerksamn gemacht werden, das ist auch unsere Intention. Aber es ist noch nicht so sichtbar wie es sein könnte. Gerade wenn man jetzt klischeehaft auch mit älteren Generationen spricht, wo einige das über ihr Leben nicht wahrgenommen haben oder auch nicht darauf hingewiesen wurden. Ich denke, dass noch viel unsichtbar ist, aber es heute viel sichtbarer wird.
Hella: Die Sichtbarkeit und der Grad der Sichtbarkeit sind davon abhängig, wo wir sie im Diskurs in der Gesellschaft platzieren. Ich würde sagen, das hat sich geändert von einer Position im Schatten kommt es langsam so ins Licht, aber wir sind lange noch nicht da, wo es im Diskurs in der Gesellschaft in der Mitte steht, diskutiert wird, sichtbar gemacht wird. Das, was wir tun, ist Aktivismus im ganz ganz kleinen Sichtbarmachen, zum wortwörtlich drüber stolpern und ins Gespräch kommen darüber.
Katja: . . .oder drüber tänzeln.
Catcallsoftübingen brauchen immer Unterstützung durch Mitkreider*innen, wenn du Interesse hast. Das kann auch nur ein Schnupperkreiden sein, oder einfach mal so, ganz unverpflichtend. Sie bekommen gerne Instagram Nachrichten, du kannst sie aber auch über ihre Email catcallsoftuebingen@web.de erreichen. Bei der Chalk Back Organisation ist gelistet, welche Städte schon eine Organisation haben. Deine hat keine? Dann gründe doch einfach!
Titelbild: Paula Baumgartner