Letze Woche besetzte eine Gruppe von etwa 20 Klimaaktivist*innen ein kleines Waldgrundstück im Französischen Viertel. Dort soll ein Portal des 2,3 Kilometer langen Schindhaubasistunnels entstehen. Die Aktivist*innen fordern den sofortigen Planungsstopp des Tunnels und schnelle Maßnahmen gegen die hohe Verkehrsbelastung in den Stadtvierteln.
Der Schindhaubasistunnel hat seinen Namen von dem Gebiet, dessen Höhenrücken er einmal unterqueren soll. Geplant ist der vierspurige Tunnel im Zuge eines Ausbaus der B 27, die eine vielbefahrene Verbindungsstrecke zwischen Stuttgart und Balingen darstellt. Er soll von der Gartenstadt (“Knotenpunkt Bläsibad”) zum Französischen Viertel (Knotenpunkt “Tübinger Kreuz”) führen und um die Stadt herumleiten. Dadurch könne laut GEA die B 27 um 1,5 km gekürzt werden. Darüber hinaus versprechen sich viele von dem Tunnel eine Staureduzierung und eine geringere Unfallquote.
Dimensionen des Tunnelbaus
Die B 27 verbindet Stuttgart mit Balingen, einem aufsteigenden Wirtschaftsstandort. Von der dortigen Stadtverwaltung wird eine gute Verkehrsanbindung zu Stuttgart und dem Flughafen als Pluspunkt für den Standort angepriesen. Eine weitergehende Verbesserung könnte sich hier positiv auf die Attraktivität Balingens für Unternehmen auswirken. Dies gilt auch für andere Wirtschaftsstandorte in der Region. Für die Stadt Tübingen sei eine Folge des Baus eine Verbesserung der städtebaulichen Entwicklungsmöglichkeiten, so das Regierungspräsidium Tübingen. Überdies solle der Tunnel eine Lärm- und Schadstoffentlastung für die Stadtteile Gartenstadt und Französisches Viertel bieten.
Für Industrie, Handwerk, Handel, die Beschäftigten und all jene, die die B 27 täglich nutzen (…) wird die Ortsumgehung Tübingen mit dem Schindhaubasistunnel eine echte Entlastung bringen.
Annette Widmann-Mauz, Pressemitteilung (2024)
Laut der Tübinger Gemeinderätin Gerlinde Strasdeit (Linke) handelt es sich bei der Tübinger Südstadt um „hochverdichtete Stadtteile und mit einem überdurchschnittlich hohen Anteil von Bewohnerinnen und Bewohnern mit sozialen Problemlagen“. Eine Verkehrsentlastung für diese sei ein besonderes Anliegen der Linken. Weiter könne man mit der Renaturierung von Straßenfläche den Stadtteil zusätzlich aufwerten.
Allerdings sind sowohl Verkehrsdichte als auch Begrünung Faktoren, die in die Berechnung des Mietspiegels einfließen. Beides könnte so auf lange Sicht zur Steigerung der Mieten in der Tübinger Südstadt führen. Der Mietspiegel ist dabei eine gesetzlich verpflichtende Orientierung für Wohnmietpreise.
Baugeschichte ohne Bau
Schon 2004 wurde der Schindhaubasistunnel in den Bundeswegeverkehrsplan (BWVP) 2003 in den Vordringlichen Bedarf übernommen. Der BWVP bildet dabei die Basis der vom Bundestag beschlossenen Ausbaugesetze. In diesem werden angedachte Projekte je nach Dringlichkeit unter ‚Vordringlicher Bedarf‘ (hohe Priorität) oder ‚Weiterer Bedarf‘ (niedrigere Priorität) aufgenommen oder verworfen.
2021 segnete das Bundesverkehrsministerium das Vorhaben ab. Insbesondere steht seither eine Finanzierung des Tunnels über den Straßenbauhaushalt der Bundesrepublik fest. Ende Juni dieses Jahres stellte das Regierungspräsidium Tübingen einen Antrag auf Einleitung des Planfeststellungsverfahrens bei der entsprechenden Behörde. Ziel eines solchen Verfahrens ist ein Planfeststellungsbeschluss, der einer Baugenehmigung gleichkommt.
Eine Besonderheit des Beschlusses ist seine sogenannte „Konzentrationswirkung“. Das bedeutet, dass er alle notwendigen Einzelgenehmigungen wie naturschutzrechtliche Befreiungen ersetzt. Im Rahmen des Planfeststellungsverfahrens ist am 02. Dezember ab 19 Uhr eine Informationsveranstaltung seitens des Regierungspräsidiums in der Hermann-Hepper-Halle Tübingen geplant.
Kritik und Forderungen der Besetzenden
Widerstand kommt dagegen von den Aktivist*innen. Die temporären Waldbewohner*innen kritisieren die Auswirkungen des Straßenverkehrs auf die Treibhausgasemission und damit der Konsequenzen, die das Bauprojekt auf das Klima hätte. Nicht nur sei der Tunnelbau mit der Freisetzung großer Mengen an CO2 verbunden, auch fördere der Ausbau von Straßen laut aktueller Studienlage den Pkw-Verkehr. Kürzere Fahrtzeiten würden das Autofahren erleichtern, wodurch mehr Menschen wieder auf das Auto umsteigen würden. Im Hinblick auf die angestrebte Verkehrswende zugunsten von öffentlichem Personennahverkehr sei dies nicht zielführend.
Weiter sei die Verkehrswende bei der Planung nicht in die Hochrechnungen, wie viele Autos in Zukunft diese Strecke befahren werden, mit einberechnet worden. Der Bedarf eines Straßenausbaus wird durch eine Kosten-Nutzen-Abwägung eingeschätzt, die wiederum auf diesen Hochrechnungen basiert. Folglich seien Prognose und Notwendigkeitsbeurteilung als überholt anzusehen.
„[Die Stadt] Tübingen will 2030 klimaneutral werden. Der Tunnelbau soll wahrscheinlich dann ungefähr angefangen werden. Das ist ein kompletter Witz!“
Lena Mapler, Waldbesetzerin
Das Vorhaben sei außerdem mit veranschlagten 338,3 Millionen Euro (Stand 2019) schlichtweg zu teuer. Insbesondere kritisieren die Waldbesetzer*innen an dieser Stelle das Bundesverkehrsministerium, das in seinen Ausgaben der letzten Jahre noch immer das Automobil begünstige und somit eine Verkehrswende blockiere. Zusätzlich betonen sie, dass die Tübinger Südstadt eine Lärm- und Verkehrsentlastung schon seit langer Zeit dringend nötig habe und dies nicht bis zur Fertigstellung des Tunnelprojektes warten könne. Sie fordern schnell umsetzbare Maßnahmen wie eine Pförtnerampel, die den Straßenverkehr am Ortseingang abfängt und in kleinen, der Straßensituation angemessenen Gruppen passieren lässt, einen Ausbau der Überwege und eine weitere Temporeduzierung.
Organisation der Waldbesetzung
In der Nacht auf letzten Montag baute die Gruppe die erste Plattform in einem der Bäume auf. Dieses mittlerweile durch eine Plane überdachte provisorische Baumhaus biete einen Schlafplatz für vier Personen, „fünf, wenn man sich ganz dolle lieb hat“, so Mapler. Hinzu kamen im Laufe der Besetzung ein Kompostklo, eine weitere kleinere Plattform in der Höhe und eine Basis am Boden. Ihre Wasserkanister durften die Besetzenden bei Anwohner*innen auffüllen. Von diesen wurden ihnen auch Nahrungsmittel gespendet. Weiter erhielten sie zum Teil Zugang zu Duschen und Strom. Auf dem Waldgebiet hielten sich während der Besetzung stets etwa fünf Aktivist*innen auf.
Ein täglicher Programmpunkt der Gruppe war der ‚Tunneltalk mit Tee‘ unter dem Motto „Wie werden wir den Tunnelblick los?“ Ein Ziel der Besetzung sei Mapler zufolge auch, „hier vor Ort ein Ort der Vernetzung und des Austausches zu sein.“ Nach eigenen Angaben kamen die Besetzer*innen so im Laufe der Woche sowohl mit betroffenen Personen aus dem angrenzenden Wohngebiet als auch mit einem kleinen Teil des Gemeinderates ins Gespräch.
Weitere Protestaktionen gegen den Tunnelbau
Im Laufe des Jahres gab es bereits mehrere Proteste gegen den Schindhaubasistunnel. So hängten zwei Aktivist*innen bereits im April ein Banner mit der Aufschrift „Verkehrswende statt gelbe Auto(b/w)ahn“ am Tübinger Regierungspräsidium auf, das in der letzten Woche auch auf dem Parkplatz am Ende der Allee des Chasseurs zwischen zwei Bäumen aufgespannt war. Auch das „Bündnis Tunnelstopp Tübingen“ spricht sich gegen den Tunnelbau ist und bildet ein Zusammenschluss mehrerer Organisationen, darunter „Fridays for Future Tübingen“ und der Jugendgemeinderat Tübingen. Die Forderungen gleichen denen der Waldbesetzer*innen.
Beitragsbild: Madeleine Kuhlberg