Wissenschaft

Gewalt und sexuelle Gewalt in Kriegen

Dass Krieg menschliches Leid bedeutet, verstehen die meisten Menschen intuitiv. Auch, dass es in Kriegen neben tödlicher Gewalt oft auch zu anderen Übergriffen kommt, darunter auch Vergewaltigungen. In einem Gastvortrag am Institut für Soziologie hat die Konfliktforscherin Anne Menzel hierzu die Schwierigkeiten bei der Aufarbeitung sexueller Gewalt näher beleuchtet.

In Kriegen geht es im Kern um Gewalt. Das Kämpfen mit schweren Waffen, das massenhafte Töten und die Zerstörung, die damit einhergeht, prägen daher unser Bild dessen, was Kriege ausmachen. Allerdings kommt es in Kriegen auch immer zu einem viel breiteren Spektrum von Gewaltanwendungen, die dabei auch nicht immer gegenseitig, also zwischen sich bekämpfenden Soldaten, sondern oft auch einseitig, also etwa von Soldaten gegen eine unbewaffnete Zivilbevölkerung, angewandt wird.

In fast allen Kriegen kommt es zu gewalttätigen Übergriffen auf die Zivilbevölkerung. Manchen Schätzungen zufolge sterben, unter der Berücksichtigung der indirekten Folgen der Gewalt, oftmals sogar deutlich mehr Zivilist*innen als Soldat*innen in bewaffneten Konflikten.

Oft kommt es auch zu sexueller Gewalt, also etwa konkret die Vergewaltigung von Zivilist*innen durch Soldat*innen.  Aus den Akten des Universitätsklinikums Tübingen ist etwa überliefert, dass sich gegen Ende des Zweiten Weltkrieges 977 Frauen aufgrund von Verletzungen in Folge von Vergewaltigungen behandeln ließen. Ähnliches ist eigentlich für nahezu jeden Krieg und bewaffneten Konflikt der Menschheitsgeschichte bekannt und dokumentiert.

Kriege werden in ihren Verläufen zwar vor allem durch das Handeln bewaffneter Gruppen geprägt, berücksichtigt man jedoch auch die indirekten Folgen, dann gehören Zivilist*innen sogar viel häufiger zu den Opfern und Leidtragenden, als Soldat*innen. ©Thomas Kleiser

„Kontrolle ist der zentrale Faktor.“

Anne Menzel, Friedens- und Konfliktforscherin, über die Ursachen sexueller Übergriffe von Soldat*innen auf Zivilist*innen in bewaffneten Konflikten

Sexuelle Gewalt als Kriegswaffe

Die Erforschung bewaffneter Konflikte, die Friedens- und Konfliktforschung, befasst sich daher auch zunehmend mit den Folgen von Gewalt gegen Zivilist*innen und ihren Ursachen. Um dieses Thema näher zu beleuchten, lud das Institut für Soziologie am Mittwoch zu einem Vortrag der Friedens- und Konfliktforscherin Anne Menzel, zu den Folgen sexueller Gewalt in Kriegen ein.

Menzel hat sich in ihrer Forschung vor allem mit der Aufarbeitung sexueller Gewalt in Sierra Leone auseinandergesetzt. Das westafrikanische Land durchlebte zwischen 1991 und 2002 einen Bürgerkrieg, ausgelöst durch den Aufstand der Rebellengruppe United Revolutionary Front (URF). Im Rahmen von insgesamt fünf Forschungsaufenthalten interviewte Menzel dabei Betroffene von sexueller Gewalt während des Bürgerkrieges, sowie Aktivist*innen und Beamt*innen, die an deren Aufarbeitung beteiligt waren.

„Die Form sexueller Gewalt, welche die meiste internationale Aufmerksamkeit bekommt, ist ganz sicher nicht die einzige Form sexueller Kriegsgewalt und vielleicht nicht einmal die Häufigste.“

Anne Menzel, Friedens- und Konfliktforscherin

In ihrer Forschung habe sie dabei aus erster Hand die Erfahrung gemacht, dass ein zentrales Problem in der Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt in Kriegen oft darin besteht, dass viele Vorfälle sexueller Gewalt ignoriert werden, wenn sie nicht gängigen Vorstellungen entsprechen. Zu diesen gängigen Vorstellungen gehören nach Menzel etwa, dass sexuelle Gewalt in Kriegen vor allem von Soldaten gegenüber Zivilist*innen angewandt wird.

Diese Erwartung sei in vielen Fällen richtig, aber eben nicht in allen. Oft, so Menzel können dies dann dazu führen, dass nach dem Krieg, wenn die Ressourcen ohnehin schon knapp sind, viele Geschädigte keine Unterstützung erhalten, weil das von ihnen erlebte, nicht dem entspricht, was die Gesellschaft erwartet, wenn sie beginnt, sich mit der Aufarbeitung sexueller Kriegsgewalt auseinanderzusetzen.

Sierra Leone durchlebte von 1991 bis 2002 einen Bürgerkrieg. Die Aufarbeitung sexueller Gewalt aus dieser Zeit beschäftigt die Gesellschaft dabei bis heute.

Wenn die Grenze zwischen Täter und Opfer verschwimmen

Ein weit verbreitetes Phänomen im sierra-leonischen Bürgerkrieg war etwa, dass Rebellen wie Regierungssoldaten Frauen mit ihren Kämpfern zwangsverheirateten und diese sich in einer sehr paradoxen Situation wiederfanden: Einerseits wurden sie missbraucht, aufgrund ihrer vergleichsweise gesicherten Position als Ehefrauen teils hochrangiger Soldaten, gehörten sie mitunter aber auch zu den wenigen, die von dem Krieg materiell profitierten und mitunter auch selbst zu Täterinnen wurden.

Die Rolle und auch nur Existenz dieser Frauen, der sogenannten bush wives, wurde dabei in der Auseinandersetzung mit dem Bürgerkrieg in Sierra Leone weitestgehend ignoriert, womöglich auch deshalb, weil sie auch selbst an Kämpfen beteiligt waren und sich daher schlecht mit traditionellen Normvorstellungen darüber, welche Rolle Männer und Frauen in Kriegen vermeintlich einnehmen, vereinbaren lassen.

Als weitere Falschannahme habe es sich in ihrer Erfahrung in Sierra Leone erwiesen, dass die Betroffenen von sexueller Gewalt oft zu beschämt seien, um über das zu sprechen, was ihnen angetan wurde. Hierbei kam es ihrer Erfahrung nach sehr darauf an, was genau den Betroffenen widerfahren sei. So hätten laut Menzel viele Mitarbeiter*innen der an der Aufarbeitung beteiligten Wahrheits- und Versöhnungskommission in Sierra Leone ihr gegenüber berichtet, dass Betroffene oft erstaunlich wenig Hemmungen gezeigt hätten, über äußerst brutale Übergriffe zu berichten, jedoch deutlich weniger über Vorfälle gesprochen wurde, bei denen die Täter-Opfer-Konstellation weniger eindeutig war, wie etwa im Fall der besagten bush wives. Für Menzel ist das ein Grund mehr, bei der Aufarbeitung sexueller Gewalttaten umso genauer hinzuschauen und konventionelle Annahmen zu hinterfragen.

Ein Problem bei der Aufarbeitung durch Wahrheits- und Versöhnungskommissionen wie der in Sierra Leone sieht Menzel aber auch in dem Umstand, dass diese oft mit sehr klaren Zielvorgaben arbeiten und genau vorgeben, welche Berichte zu welchen Gewalttaten gesammelt werden sollen. Aus Menzels Sicht kann man so den Opfern der Gewalt nicht ausreichend dazu verhelfen, dass ihre Geschichte gehört wird und auch auf eine Art erzählt wird, mit der diese selbst einverstanden sind.

Besser fände sie es, wenn die Wahrheitsfindung von der Versöhnungsarbeit dieser Kommissionen daher besser getrennt wären, wenn also Betroffene zusätzlich auch die Möglichkeit bekommen würden, frei von irgendwelchen Vorgaben, offen über das ihnen Widerfahrene berichten zu können. Gerade auch Deutschland könne als wichtiger Finanzier internationaler Entwicklungsprojekte Einfluss darauf nehmen, ob und wie solche Probleme stärker berücksichtigen werden oder nicht.

Wie viele Personen infolge von Kriegen sterben, lässt sich oft nur schwer schätzen. Die Zahl derjenigen, die durch die indirekten Folgen der Kämpfe gestorben sind, dürften vermutlich aber weitaus höher liegen. ©Thomas Kleiser
Die Auswirkungen des Bürgerkrieges auf die Zivilbevölkerung waren derart massiv, dass die Bevölkerung Sierra Leones infolge von Tötungen und Vertreibungen zu Beginn des Krieges stark zurückging. Das Bevölkerungswachstum stieg erst sehr später auf das Vorkrisenniveau. ©Thomas Kleiser

Nicht nur Soldat*innen, auch Zivilist*innen vergewaltigen im Krieg

Eine weitere fälschliche Annahme sei der Glaube, dass in Kriegen es vor allem Soldat*innen seien, die Zivilist*innen vergewaltigten. So verweist Menzel zu Beginn etwa auf eine Diskussion zwischen der Hamburger Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Regina Mühlhäuser und der ukrainischen Historikerin Marta Havryshko zu der Frage, ob sexuelle Gewalt im Russland-Ukraine-Krieg als systematische Kriegswaffe eingesetzt werde.

Mühlhäuser gibt darin zu bedenken, dass sie zwar Anzeichen dafür sehe, es ihr aber auch Sorgen bereite, dass sich im Rahmen des Krieges bereits sehr viele sexuelle Übergriffe ereigneten, etwa von ukrainischen Zivilisten in Luftschutzbunkern in Kiew, über die nicht gesprochen werde, eben weil sie nicht in das gängige Bild passen, demnach Vergewaltigungen im Krieg vor allem von feindlichen Soldaten an der eigenen Zivilbevölkerung begangen würden.

Je mehr Disziplin und Kontrolle in Streitkräften, desto weniger sexuelle Gewalt gegenüber Zivilist*innen?

Auf die Frage, welche Faktoren einen Einfluss darauf haben, ob und wie häufig es in Kriegen zu sexueller Gewalt kommt, betont Menzel vor allem den Einfluss von Kontrollmöglichkeiten von Soldaten durch ihre Vorgesetzten. Je disziplinierter die Soldaten seien und je stärker die Kontrollmöglichkeiten durch Vorgesetzte, desto unwahrscheinlicher sei demnach auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese Soldaten sexuelle Übergriffe auf Zivilist*innen begingen. Das setzt natürlich voraus, dass sexuelle Übergriffe nicht gezielt von Vorgesetzten als Teil einer Kriegsstrategie angeordnet oder geduldet werden.

In den meisten Kriegen seien Vergewaltigung aber eher ein Ausdruck soldatischer Willkür als militärischer Strategie, glaubt Menzel. In Sierra Leonie, seien die konkreten Kommandoverhältnisse auf beiden Konfliktparteien teils derart desolat gewesen, dass sie davon ausgeht, dass, selbst wenn es einen zentralen Plan zur systematischen Vergewaltigung von Zivilist*innen gegeben hätte, kein Kommandeur für sich genommen über ausreichend Befehlsgewalt über die oft verstreuten Truppen gehabt hätten, um einen solchen auch zentral durchzusetzen.

Im Fall des aktuellen Russland-Ukraine-Krieges sieht Menzel etwa als Problem, dass das russische Verteidigungsministerium nicht sämtliche der dort eingesetzte Truppen direkt kontrolliere, sondern teils unabhängige Verbänden bestünden, wie die Wagner-Gruppe, ein Militärunternehmen, zu der zuletzt mehrere zehntausend Kämpfer gehörten. Dadurch könnte es zu dem besagten Mangel an Kontrollmöglichkeiten kommen und hierdurch wiederum zu willkürlichen Überbegriffen gegen Zivilist*innen, und das ganz unabhängig von der Frage, inwieweit diese von den russischen Streitkräften ohnehin schon gewollt sind.

Darüber sollte man laut Menzel aber auch nicht vergessen, dass es in Streitkräften auch zu sexuellen Übergriffen von Soldat*innen auf andere Soldat*innen komme. Ein weiterer Aspekt sexueller Kriegsgewalt, der oft nicht in das gängige Bild passt.

Von den 69 hier dokumentierten Fällen sexueller Gewalt seit Beginn des Russland-Ukraine-Kriegs wurden mit einer Ausnahme alle von russischen Truppen begangen. Aus Sicht von Menzel erhöht der Einsatz irregulärer Verbände, die nicht unter der direkten Kontrolle des russischen Verteidigungsministeriums stehen, die Wahrscheinlichkeit, dass es zu sexueller Gewalt gegen Zivilist*innen kommt. ©Thomas Kleiser

Feministische Außenpolitik im Umgang mit sexueller Kriegsgewalt

Seit März gibt es seitens des Auswärtigen Amts einen Leitfaden darüber, wie Deutschland eine feministische Außenpolitik betreiben könnte. Auf die Frage, wie eine feministische Außenpolitik mit dem Thema sexueller Gewalt in Kriegen umgehen sollte, betont Menzel, dass für sie dazu gehöre, sicherzustellen, dass gerade die Schwächsten der Gesellschaft bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung sexueller Kriegsgewalt gehört werden: „Für mich ist ein ganz zentrales Anliegen des Feminismus, sichtbar zu machen, was nicht gesehen wird. Es geht darum, Machtverhältnisse zu hinterfragen.“ Und, so fügt sie noch hinzu: „Es geht eben nicht nur um Frauen.“

Allerdings habe sie nicht den Eindruck, dass diese Grundsätze in der feministischen Außenpolitik des Auswärtigen Amts bislang berücksichtigt werden. In Deutschland müsse man sich in der Außen- und Entwicklungspolitik häufiger die Fragen stellen: „Was finanzieren wir wie? Müssen wir immer klar zählbare Ergebnisse haben? Oder ist nicht gerade für die Schwächsten auch eine längerfristige Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit und therapeutischen Projekten, bei denen man nicht genau weiß, was dabei herauskommen wird, einen Gedanken wert?“

Bilder: Sasha India CC BY 2.0,

Grafiken: Thomas Kleiser

Ähnliche Beiträge

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert